Unterstützung und Halt in akuten Krisen. Jugend am Werk betreibt in der Steiermark zwei Kriseneinrichtungen für Kinder und Jugendliche: Die tartaruga, die schon über 30 Jahre besteht, und die Krisenunterbringung innerhalb der ARGE 4Raum. Maria Vergendo, Leiterin der beiden Standorte, spricht zum Jubiläum über die Entlastung von Jugendlichen, die Stabilisierung von Familiensystemen und kleine Erfolge.
Die tartaruga gibt es bereits seit 1994, sie war die erste Krisenunterbringung in der Steiermark. Warum braucht es die tartaruga, damals wie heute?
Im Gegensatz zu anderen Angeboten für Kinder und Jugendliche ist die tartaruga speziell auf akute Krisen ausgerichtet. tartaruga, das ist das unkomplizierte Angebot einer Auszeit, eine Entlastung mit unaufgeregtem Zugang. Die Jugendlichen können sich direkt an uns wenden, wenn sie das Gefühl haben, aufgrund von Konflikten nicht mehr nachhause zu können. In der tartaruga erhalten sie zunächst Beratung, die sich in eine Krisenunterbringung umwandeln kann, wenn klar wird, dass es ein paar Tage oder Wochen braucht, um die Systeme abkühlen zu lassen. Anders als Wohngemeinschaften hat die tartaruga keinen Vorlauf. Ein Kennenlernen vor dem Einzug ist nicht nötig. Die Kids wissen: Egal, was gerade los ist oder was ich gemacht habe, hier habe ich einen Platz, wo ich sein kann.
Wie äußert sich denn diese Niederschwelligkeit bei der tartaruga? Kann jederzeit angerufen werden?
Wir sind Tag und Nacht da. Wir machen unsere Beratungen nicht nur persönlich, sondern auch telefonisch, per Mail oder via Nachricht. Das ist Krisenintervention rund um die Uhr. Wir sind außerdem gut vernetzt: Viele Jugendliche werden über verschiedene Helfersysteme auf uns aufmerksam gemacht. Etwa über Streetworker*innen, Mitarbeitende der Flexiblen Hilfen, Sozialarbeiter*innen, Lehrende oder Jugendcoaches.
In Graz gibt es mittlerweile eine weitere Krisenunterbringung: Die Arbeitsgemeinschaft 4Raum feiert in diesem Jahr ihr 10-jähriges Bestehen und bietet seit 2021 auch Betreuung in akuten Krisen innerhalb ihrer Struktur an. Was unterscheidet dieses Angebot von der tartaruga?
Ein wesentlicher Unterschied ist der Zugang: In die tartaruga können die Jugendlichen aus der ganzen Steiermark selbst kommen, für den 4Raum dagegen braucht es eine Zuweisung vom Amt für Jugend und Familie in Graz. Die Alterspanne ist auch eine andere. Die tartaruga steht Jugendlichen ab 13 Jahren offen, in der Kriseneinrichtung von 4Raum werden schon Kinder ab 6 Jahren aufgenommen. Während die tartaruga von Jugend am Werk betrieben wird, ist 4Raum außerdem ein trägerübergreifendes Projekt, das nicht nur eine Kriseneinrichtung, sondern auch Wohngemeinschaften und mobile Betreuung beinhaltet. Und das sehr erfolgreich: Aktuell werden in der ARGE 4Raum insgesamt 50 Kinder und Jugendliche in Form einer stationären flexiblen Hilfe betreut.
Das Wort „Krise“ ist jetzt schon sehr oft gefallen: Um welche Krisen geht es da konkret?
Ganz oft sind es Konflikte zuhause in der Familie, die das Kindeswohl gefährden. Grund kann eine hohe Belastung der Eltern sein, zum Beispiel durch eine psychische Erkrankung. In vielen Fällen sind Suchterkrankungen und Gewalt in der Familie Herausforderungen. Oder pubertäre Krisen: Themen wie Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung und Substanzmissbrauch. Wir nehmen Jugendliche aus der ganzen Steiermark mit den unterschiedlichsten Hintergründen und allen sozialen Schichten auf. Bei uns landen außerdem Jugendliche, die schon ganz viele Stationen der stationären Betreuung durchlaufen, aber noch keinen passenden Platz gefunden haben.
Einmal in der Krisenunterbringung angekommen – wie gehen die Mitarbeitenden von Jugend am Werk vor, um Kinder und Jugendliche zu stabilisieren?
Was wir in der Krisenunterbringung sehr gut können, ist die Bedürfnisse der einzelnen Jugendlichen in ihrer individuellen Lebenssituation wahrzunehmen, anzuerkennen und abzudecken. Das bedeutet in erster Linie gewohnte Tagestrukturen aufrechtzuerhalten, zum Beispiel den Schulbesuch, eine Lehre oder eine Ausbildungsmaßnahme. Gleichzeitig nehmen wir auch den Druck heraus. Nicht immer ist ein Schulbesuch zum Beispiel möglich, dann suchen wir eine andere Beschäftigung. Die Jugendlichen begleiten uns in der Haushaltsführung, beim Einkaufen und Kochen. Gemeinsam machen wir den Garten und organisieren unterschiedliche Freizeitaktivitäten. Wir lernen aber auch mit den Jugendlichen und arbeiten an ihren Themen. Ziel in der Krisenunterbringung ist die Stabilisierung und Entlastung und Abklärung, so dass im besten Fall ein Zusammenleben mit der Familie wieder möglich ist.
Beide Kriseneinrichtungen sind nur Übergangslösungen: Die Aufenthaltsdauer beträgt maximal 12 Wochen. Wo geht es danach hin?
Wir arbeiten nach dem Prinzip: Kein Ausschluss vor Anschluss. Niemand muss die Krisenunterbringung verlassen, wenn nicht klar ist, wie es weitergeht. Im Idealfall geht es nachhause, das ist immer unser oberstes Ziel. Dafür beschäftigen wir uns nicht nur mit den Jugendlichen selbst, sondern auch mit ihrem Familiensystem. Welche Unterstützungsangebote könnten nach der Krisenunterbringung wahrgenommen werden, damit ein Zusammenleben wieder möglich ist?
Melden sich viele Jugendliche später noch einmal bei euch und erzählen, wie es für sie weiterging?
Es passiert laufend, dass Jugendliche später noch einmal in der tartaruga vorbeischauen. Zum Beispiel, um Betreuer und Betreuerinnen zu treffen oder einfach nur zu sehen „ob alles noch so ist, wie es war.“ Dass sie sich wohlfühlen und gerne an diesen Ort zurückdenken, ist ein Teil des Erfolgs. Eine konkrete Geschichte kann ich aber auch erzählen: Von einer Jugendlichen, die vor Jahren in der tartaruga war, inzwischen erwachsen ist und beruflich sehr erfolgreich. Sie hat sich ihr Einzugsdatum in die tartaruga tätowieren lassen, weil dieser Tag für sie wie ein zweiter Geburtstag war. Ihr Start ins richtige Leben und in die Selbstständigkeit. In der tartaruga wurde sie so gesehen und akzeptiert, wie sie ist, anerkannt und unterstützt. Das wirkt bis heute nach.
Wenn wir über den Tellerrand schauen: Wie muss es weitergehen mit der Krisenunterbringung in der Steiermark? Gibt es Wünsche zum Jubiläum?
Der Bedarf nach mehr Kriseneinrichtungen ist auf jeden Fall da – vor allem für Kinder. Die Krisenunterbringung innerhalb der ARGE 4Raum ist aktuell die einzige ihrer Art in der Steiermark, die sich an Kinder unter 13 Jahren richtet. Die geringe Anzahl der Krisenpflegeplätze stellt uns vor eine herausfordernde Situation: Wohin mit kleinen Kindern, wenn es keine familiären Ressourcen gibt, aber eine dauerhafte Fremdunterbringung noch vermieden werden könnte? Durch die fehlenden Ressourcen in der Krisenintervention werden hier Chancen auf Rückführung vertan.