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Digital Native oder Digital Naiv? Digitale Kompetenz überdenken

Antonia Pichler und Anna Lahtien


Im digitalen Zeitalter suggeriert der Begriff „Digital Native", wie er im Cambridge Dictionary definiert wird, eine angeborene Kompetenz im Umgang mit digitalen Technologien bei denjenigen, die mit ihnen aufgewachsen sind. Dieser Begriff bedarf jedoch einer kritischen Prüfung. Das bloße Aufwachsen im digitalen Zeitalter ist nicht gleichbedeutend mit einem umfassenden Verständnis für digitale Werkzeuge und Plattformen. Dieses Missverständnis spiegelt die falsche Annahme wider, dass Muttersprachler*innen ohne formale Ausbildung ein angeborenes Verständnis der grammatikalischen Regeln einer Sprache besitzen. Die Realität ist weitaus komplexer und erfordert einen differenzierten Ansatz für die digitale Kompetenz, insbesondere im Bildungskontext.

Dieser Artikel beleuchtet die Erkenntnisse, die bei der Durchführung eines Pilotkurses für digitale Kompetenzen im Rahmen des Erasmus+-Projekts „Digital Job Onboarding" gewonnen wurden, und deckt ein kritisches Versäumnis in unseren Annahmen über die hohe digitale Kompetenz von Jugendlichen in der Arbeitswelt auf.

Der Mythos der Digital Natives 

Das Konzept der Digital Natives hat sich mit dem technologischen Fortschritt weiterentwickelt. Ursprünglich beschrieb er die Generation der Millennials, die als erste mit Heimcomputern und Internetzugang aufgewachsen sind. Heute gilt er vordergründig für die Generation Z und die Generation Alpha, die aufgrund ihres Aufwachsens inmitten allgegenwärtiger High-End-Technologie als noch technikaffiner gelten. Hinter dieser generationsspezifischen Vertrautheit mit der Technologie verbirgt sich jedoch oft eine kritische Lücke im Verständnis. Junge Menschen können heute problemlos mit Smartphones und sozialen Medien umgehen, doch dieses oberflächliche Engagement reicht nicht aus, um ein tieferes Verständnis der digitalen Werkzeuge und ihrer potenziellen Anwendungen zu erlangen.

Unsere Erfahrungen bei der Durchführung eines Kurses für digitale Kompetenzen im Rahmen eines Erasmus+-Projekts „Digital Job Onboarding" haben gezeigt, dass unsere Annahmen über die digitale Kompetenz junger Menschen nicht zutreffen. Der Kurs, der sich an Personen im Alter von 15 bis 25 Jahren richtete, sollte wesentliche Themen wie die Beherrschung digitaler Werkzeuge, Online-Sicherheit und professionelles Verhalten in sozialen Medien abdecken. Entgegen unseren Erwartungen führte die Vertrautheit des täglichen Umgangs mit der Technologie nicht zu einem umfassenden Verständnis oder einer umfassenden Kompetenz. Dieser „Denkfehler der TV-Generation" geht davon aus, dass Erfahrung gleichbedeutend mit Fachwissen ist - ein Irrtum, der auf die Zeit zurückgeht, als der Fernseher Einzug in unsere Wohnzimmer hielt und Kinder anscheinend geschickter mit ihm umgehen konnten als Erwachsene.

Überwindung der Kluft bei der digitalen Kompetenz

Die Analogie des Sprachenlernens eignet sich gut, um die vorliegende Herausforderung zu verstehen. Die Generation Z kann, ähnlich wie die A2-Sprachschüler*innen, die digitale Sprache „sprechen" - sie kann Apps nutzen, auf Schnittstellen navigieren und online kommunizieren. Ohne ein grundlegendes Verständnis der digitalen Grammatik - wie Dateiverwaltung, Softwarefunktionen und Internetsicherheit - kratzen sie jedoch nur an der Oberfläche. Unsere Bildungsanstrengungen müssen daher über die bloße Nutzung hinausgehen und sich auf die Regeln und Strukturen konzentrieren, die einer effektiven und sicheren digitalen Nutzung zugrunde liegen.

Während des Kurses zu digitalen Fertigkeiten wurde anhand einer einfachen Aufgabe wie der Eingabe einer URL in die Adressleiste eines Browsers die Diskrepanz zwischen wahrgenommener und tatsächlicher digitaler Kompetenz deutlich. Viele Teilnehmende benutzten standardmäßig die Suchleiste und offenbarten damit eine grundlegende Verständnislücke. Dieser Moment unterstrich die Notwendigkeit einer grundlegenden digitalen Bildung, bei der nicht nur die Nutzung bestimmter Anwendungen, sondern auch die zugrundeliegenden Prinzipien der digitalen Technologie vermittelt werden. Grundlegende Programme wie Microsoft Word und Excel eignen sich hervorragend als Ausgangspunkt, da sie Konzepte enthalten, die auf zahlreiche Online-Tools anwendbar sind.

Es liegt in der Verantwortung von Erziehenden, Lehrenden und Fachleuten der beruflichen Aus- und Weiterbildung, diese Lücke zu schließen. Wir müssen die Grenzen der Bezeichnung „Digital Native" erkennen und sicherstellen, dass unsere Unterrichtsstrategien grundlegende digitale Kompetenzen vermitteln. Dieser Ansatz ist besonders wichtig für junge Menschen mit unterschiedlichem Bildungshintergrund, einschließlich jener, die als NEETs (not in education, employment, or training) eingestuft werden und denen der Zugang zu umfassender digitaler Kompetenzvermittlung fehlt.

Da sich die Technologie ständig weiterentwickelt und immer benutzerfreundlicher wird, ist die Versuchung groß, die Bedeutung grundlegender digitaler Kenntnisse zu übersehen. Ähnlich wie das Ignorieren der grammatikalischen Regeln einer Sprache kann dieses Versäumnis jedoch zu einem oberflächlichen Umgang mit digitalen Technologien führen. Pädagog*innen, politische Entscheidungsträger*innen und Technologieentwickler*innen müssen zusammenarbeiten, um die Vermittlung digitaler Kompetenzen neu zu definieren und sicherzustellen, dass sie sowohl die praktischen Fähigkeiten umfasst, die für die heutigen digitalen Werkzeuge erforderlich sind, als auch das kritische Denken, das notwendig ist, um sich in der digitalen Welt verantwortungsvoll und effektiv zu bewegen.

Indem wir unseren Ansatz zur digitalen Kompetenz überarbeiten, befähigen wir nicht nur die nächste Generation, die Technologie effektiver zu nutzen, sondern legen auch den Grundstein für eine integrativere und digital kompetentere Gesellschaft. Der Weg von der digitalen Naivität zur digitalen Kompetenz erfordert ein kollektives Engagement für eine Bildung, die das Grundlegende über das Auffällige stellt, die Substanz über die Oberfläche.

Den Artikel hier auf Englisch lesen.